Meine sehr verehrten Damen und Herren,

vor nun genau 100 Jahren erlitt China eine der wohl traumatisierendsten Demütigungen in seiner langen Geschichte. Japan sah sich in der Lage, der jungen Republik China einen Katalog von 21 Forderungen zu stellen, deren Erfüllung einer Unterwerfung Chinas gleichgekommen wäre.

Diese Demütigung war nur eines der Anzeichen für den desolaten Zustand Chinas. China war weder technologisch noch kulturell in der Lage, sich gegen die zunehmenden Souveränitätsverluste an die westlichen Mächte, an Russland und nun auch gegenüber an einen asiatischen Nachbarn zu erwehren. Ein Großteil der Intellektuellen und dann auch die politische Führung mussten einsehen, dass China nur dann eine Chance hatte, als unabhängiger Staat zu überleben und vielleicht in ferner Zukunft wieder einmal ein starkes „Reich der Mitte“ zu werden, wenn man sich die Fähigkeiten der Eindringling aneignete, die deren Übermacht zu Grunde lagen.

Warum erinnere ich hier an diese Erfahrungen Chinas. Die Mehrzahl der für das Schicksal des Landes Verantwortlichen konnte sich der Erkenntnis nicht länger verschließen, dass man nicht irgendwelche einzelnen, nützlichen Elemente aus der westlichen Kultur herauslösen und im Kampf gegen die Eindringlinge einsetzen konnte. Es begann ein Lernprozess, der in unseren Tagen zwar noch nicht zum Abschluss gekommen ist, der aber bereits deutliche Erfolge zeigt. China ist wieder ein weltweit mächtiges Land und strebt der alten Vormachtstellung in Ostasien und vielleicht auch darüber hinaus zu. Um das Ziel zu erreichen, hat China seit nun 100 Jahren ein Programm aufgelegt, vom Westen zu lernen, einschließlich der westlichen Medizin, und auch das gesamte Kulturpaket zu erwerben, das diese westliche Medizin hervorgebracht hat und in das diese westliche Medizin eingebunden ist.

Nun leben wir heute in einer Zeit, in der in den westlichen Gesellschaften ein Sinneswandel eingetreten ist, der auch vor unserer medizinischen Realität nicht Halt macht. Die westliche Medizin, die sich auf Chemie, Physik und die Technologie der Diagnose und Therapie stützt, gerät in diesem Sinneswandel zunehmend ins Zwielicht. Und diese Zweifel lassen den Blick wandern aus der Gegenwart in unsere eigene heilkundliche Vergangenheit, aber auch über die Grenzen unserer Kultur hinweg – und somit auch nach China und das ist die Grundlage dieser jährlichen Zusammenkünfte hier in Rothenburg.

China ist die einzige nichtwestliche Zivilisation, deren medizinische Tradition wir seit ihren Anfängen Jahrhundert für Jahrhundert nachverfolgen können. Nicht zuletzt die Lektüre des Huang Di nei jing Ling shu hat mich immer wieder fasziniert. Doch die Begeisterung für die Erkenntnisse, die im Lauf der vergangenen zwei Jahrtausende von chinesischen Naturbeobachtern, Theoretikern und praktischen Anwendern gewonnen und überliefert wurden und in modifizierter Weise bis heute eine dankbare Klientel finden, diese Begeisterung muss auch dieselbe Frage ermöglichen, die sich den chinesischen Reformern und Revolutionären mit Blick auf die europäische Medizin vor einhundert Jahren stellte. Das heißt, wie groß und welchen Inhalts ist das kulturelle Gesamtpaket, das wir übernehmen müssen aus China, um die in dieses kulturelle Gesamtpaket eingebettete Medizin nutzbringend übernehmen zu können?

Die kulturelle Einbindung der Entwicklung der chinesischen Medizintheorie aufzuzeigen, das war bereits der Anstoß, der mich vor 40 Jahren die Ideengeschichte der chinesischen Medizin schreiben ließ. Eine nicht zu übersehende Abneigung gegen dessen Inhalte hat sich in einigen Kreisen der TCM-Gemeinde bis heute bei denen erhalten, die diese kulturelle Einbindung am liebsten nicht wahrnehmen möchten und die transkulturelle Wertigkeit der TCM durch allzu detailliertes Wissen über deren kulturelle Ursprünge gefährdet sehen. Aber genau darum sollte es denen gehen, die sich nicht nur mechanisch irgendwelche angeblich traditionellen chinesischen Heilweisen aneignen möchten, sondern die Auseinandersetzung suchen zwischen antikem Erbe einerseits und unvermeidlicher Anpassung an die Gegenwart andererseits. Und vor diesem Hintergrund ist es auch unumgänglich, dass wir die antiken Klassiker in ihrer eigenen Sprache lesen, das heißt, in der Übersetzung die damaligen Sprachbilder, Metaphern und Analogien wörtlich wiedergeben, um verstehen zu können, was die damaligen Autoren im Sinn hatten, wenn sie ihre Erkenntnisse zu der Natur des Menschen, seiner Gesundheit und seiner Krankheiten niederschrieben.

Ich darf aus der Einleitung zu meiner Übersetzung des Ling Shu zitieren:

„Dieser Ansatz wird denen kaum etwas bieten, die die antiken Autoren nicht ernst nehmen können. Die Lektüre der Texte der antiken Autoren hat mir im Laufe der Jahre größten Respekt eingeflößt. Je länger man sich in ihre Gedankengänge und Argumentation vertieft, umso deutlicher wird die Intelligenz, die in ihnen zum Ausdruck kommt. Ich folge daher nicht den vielfach gehörten Aufforderungen, diese Menschen gleichsam ihrer Gedanken und ihrer Ausdrucksweise zu enteignen und moderne Termini und gegenwärtig gültige physiologische und pathologische Konzepte in der Übersetzung vorzutragen, so als wollte man heute behaupten, die Autoren damals hätten eigentlich noch gar nicht gewusst und verstanden, was sie im kranken und gesunden Menschen sahen und wie das zu deuten ist. Sie wussten damals sehr wohl, was sie sahen, und sie hatten ein sehr logisches und von Vernunft geprägtes Verständnis – in ihrer Zeit und mit ihren Mitteln. Dies hervorzuheben, dazu mag die vorliegende Übersetzung geeignet sein.“

Aus diesen antiken Texten und der nachfolgenden Literatur ist aber auch das kulturelle Gesamtpaket ersichtlich, von dem ich nun schon mehrfach gesprochen habe. Wir erkennen es nicht, wenn wir die Termini zang und fu als Hohl- und Festorgane übersetzen oder schlicht als zang und fu in pinyin-Transliteration umschreiben, weil die wörtliche Übersetzung so peinlich unwissenschaftlich erscheint. Wir erkennen das kulturelle Gesamtpaket nicht, wenn wir die ying und wei-Qi als Bau- und Wehr-Energie, oder als struktive und defensive Energie übersetzen und somit den militärischen Ursprung dieser Terminologie und vieler anderer Begriffe der antiken chinesischen Medizin leugnen. Die antiken Termini wörtlich zu übersetzen ist keine bösartige Herabsetzung der antiken chinesischen Medizin sondern schlicht und einfach die unumgängliche Grundlage für ein verantwortungsvolles Abwägen zwischen den Polen antikes Erbe einerseits und notwendige Anpassung an die Gegenwart andererseits

Vor zwei Jahrtausenden entstand in China eine völlig neue Art von Heilkunde. Deren kulturelle Prägung lag in den Erfahrungen der vergangenen Epoche der Kämpfenden Reiche, vom 5. bis in das 2. Jahrhundert v.u.Z. Diese Erfahrungen vermischten sich auf eine sehr komplexe Weise mit den Erfahrungen, die die uns heute leider unbekannten Autoren der antiken Klassiker aus offenbar langfristiger Beobachtung menschlichen Krankseins gewonnen hatten.

Man muss sich das Kapitel des Ling Shu über das Wachstum von Tumoren im Körper anschauen, oder viele andere Textstellen auch und sich dann fragen: woher stammen diese oft auch heute noch beeindruckenden, um nicht zu sagen: überzeugenden Aussagen? Wir haben im Ling Shu wie auch in den antiken Klassikern ein Wissen vor uns ausgebreitet, das keinesfalls nur aus Spekulation entstanden sein kann. Viele der Aussagen sind kaum denkbar ohne eine lange Kette von Begegnungen mit vielen Patienten. Wo und wann diese Begegnungen stattgefunden haben, das sagen uns die Texte nicht.

Diese so sinnvollen Aussagen und Rückschlüsse sind aber eingebettet in andere Erfahrungen und es erscheint mir recht unverständlich, was daran so verwerflich ist und warum es eine erbitterte Feindschaft herausfordert, wenn man auf die Verknüpfung dieser beiden Erfahrungsebenen hinweist und zumindest aus historischer Fragestellung heraus die beiden Ebenen zu trennen sucht. Es ist ja, wie ich in meinem Buch Was ist Medizin versucht habe aufzuzeigen, dasselbe Phänomen auch in der Geschichte der europäischen, ja selbst der heutigen, sich so wissenschaftlich gebenden Medizin erkennbar. Einerseits erkennen wir die von der umgebenden politischen, kommerziellen und weltanschaulichen Kultur beeinflusste und sich dieser Kultur stets anpassende Ebene des Umgangs mit Krankseins und andererseits sind da doch ausreichend diagnostische und therapeutische Fähigkeiten, die wir nicht missen möchten. In der Entwicklung der chinesischen Medizin war es nicht anders.

Aus der Sicht des Historikers kann ich nur schließen mit der Bemerkung, dass es durchaus sinnvoll sein könnte für die wirkungsvolle Auswertung des antiken Erbes, wenn man sich den Realitäten der Geschichte stellt und die Frage erörtert, die diesem Vortrag vorangestellt wurde: Wieviel chinesische Kultur wollen wir mit der TCM übernehmen?

Einführende Darlegungen von Prof. Paul P. Unschuld zur Eröffnung des Rothenburger TCM Kongreß 2015