Was hat Sie dazu bewegt den antiken Klassiker Ling Shu, welcher über 2000 Jahre alt ist, für die moderne westliche Welt zu übersetzen?
Seit mehr als 45 Jahren beschäftige ich mich mit der Geschichte der Medizin und Pharmazie in China und dem Vergleich der heilkundlichen Traditionen Europas und Chinas. Nachdem ich vor vielen Jahren zunächst das Nan Jing und dann, gemeinsam mit Hermann Tessenow, das Su Wen erstmals auf der Grundlage strikter philologischer und historischer Methodik in eine westliche Sprach übersetzt hatte, blieb noch das Ling Shu als ein zentraler Text vom Beginn der Entwicklung einer chinesischen Medizin auf der Grundlage einer säkularen naturgesetzlichen Weltanschauung, das sind die Yin-Yang- und Fünf-Phasen-Theorien. Ursprünglich hatte ich gar nicht vor, den Text in seiner Gesamtheit zu übersetzen. Aber nachdem ich einige Kapitel genauer angeschaut hatte, wurde mir bewußt, dass von allen Texten, die ich bisher übersetzt hatte, das Ling Shu der wohl faszinierendste ist. Daraufhin habe ich eine vollständige Übersetzung angefertigt, die nun vorliegt.
Ist es überhaupt möglich, die Denkweise der damaligen Zeit für den heutigen Leser verständlich rüber zu bringen?
In meinen Vorlesungen zur Geschichte der chinesischen Medizin lege ich einen Schwerpunkt immer wieder darauf, den Studenten zu verdeutlichen, dass uns zwar 2000 Jahre von den Autoren der Han-Zeit trennen, dass aber dennoch keine irgendwie geartete Barriere existiert, die es uns unmöglich machen würde, deren Denk- und Ausdrucksweise nachzuvollziehen und in die Gegenwart zu übertragen. Die damaligen Autoren haben Erfahrungen und ihre eigenen Schlüsse niedergeschrieben. Das Ling Shu ist – ähnlich dem Nan Jing – ein von Anfang bis Ende inhaltlich nachvollziehbarer Text. Da gibt es keine esoterischen Inhalte, die dem heutigen Leser den Zugang verwehren könnten. Dem Su Wen merkt man an, dass der Text von Wang Bing zur Tang-Zeit aus den Rest-Fragmenten der Überlieferung zusammengestückelt wurde. Daher ist das Su Wen ein sehr viel heterogenerer Text mit vielen Bruchstellen und korrupten Passagen. Vielleicht lag es an den mangelnden Kenntnissen des klassischen Chinesisch früherer Interpreten dieser antiken Texte, dass die Mähr von einer uns fremden Denkweise aufkommen konnte, und ich begegne ja auch durchaus Misstrauen und Anschuldigungen, in der Übersetzung den chinesischen Originaltext verfälscht zu haben. Aber dazu besteht kein Grund. Die Übersetzung ist so nahe am Original, wie eine Übersetzung eines heutigen Texts aus dem Chinesischen es ebenfalls wäre.
Für wen ist dieses Buch geeignet und gibt es auch therapeutische Ratschläge, die Therapeuten für ihre Praxis übernehmen können?
Das Ling Shu ist für mehrere Lesergruppen von Interesse. Es liegt hier nun erstmals eine verlässliche Übersetzung in einer westlichen Sprache vor. Damit bietet sich für alle diejenigen, die über die Grenzen der heutigen, „westlichen“ Medizin hinausschauen und in der chinesischen Tradition Anregungen und Hinweise auf eine möglicherweise bessere Behandlung von Kranksein suchen, die Möglichkeit, die heute als „Traditionelle Chinesische Medizin“ verbreitete Heilkunde mit den Ursprüngen dieser Heilkunde von vor zwei Jahrtausenden zu vergleichen. Die Auswahl der Inhalte der heutigen TCM aus der chinesischen Vergangenheit ist ja willkürlich. Es gibt keine irgendwie gearteten und belastbaren Kriterien, die uns festlegen könnten, nun die heutigen in der VR China definierten Inhalte der TCM als alleiniges Erbe anzusehen, das aus der reichen Geschichte der chinesischen Medizin in die Zukunft übernommen werden sollte. Unzählige aufmerksame und nachdenkliche Ärzte haben im Verlauf der vergangenen zwei Jahrtausende in China ihre Gedanken und Beobachtungen niedergeschrieben, ohne dass die in der heutigen TCM noch ihren Widerhall fänden. Von daher ist auch der Blick in die antiken Klassiker durchaus reizvoll. Hier werden Erfahrungen und Schlußfolgerungen dokumentiert, die zuweilen unmittelbar modern erscheinen. Hier werden Hinweise auf die Therapie zahlreicher Leiden gegeben, die auch heute noch von Interesse sind und zumindest zum Vergleich mit den heutigen TCM-Maßgaben geeignet sind. Abgesehen davon ist es einfach ein Vergnügen, den Autoren der damaligen Zeit gleichsam über die Schulter zu schauen und mitzuverfolgen, welche Sichtweisen auf individuelles und kollektives Kranksein sie niederschrieben, welche Metaphern sie benutzten, um ihren Lesern das Verborgene nachvollziehbar werden zu lassen.
Darüber hinaus bieten diese Texte nun auch erstmals eine verläßliche Grundlage zum Vergleich mit den etwa zeitgleichen hippokratischen Texten am Beginn der griechisch-europäischen Medizin. Da ergeben sich viele Fragen, die vielleicht in Zukunft von Medizin- und Wissenschaftshistorikern angegangen werden und aus dem Vergleich der beiden Traditionen auch grundsätzliche Aussagen über die kognitive Dynamik medizinischer Theoriebildung ganz allgemein erlauben werden, wie ich es in meinem Buch „Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunde“ ausgeführt habe.
Wie erklären Sie sich den Trend, dass Therapeuten wieder verstärkt auf die alten Klassiker zurückgreifen?
Nun, es setzt sich doch langsam die Erkenntnis durch, dass die TCM noch vielfach auf einem willkürlich von VR-chinesischen Kommissionen in den 1950er und 1960er Jahren festgelegten Kriterienkatalog beruht, dem man sich anvertrauen kann, aber nicht anvertrauen muss. (Siehe Kim Taylor: Chinese Medicine in Early Communist China. A Medicine of Revolution). Die Tradition ist eben sehr, sehr viel reicher und vielfältiger, als es die TCM-Lehrwerke vermuten lassen. Man muss sich nur die Schilderungen der Yin-Yang- und der Fünf-Phasen-Lehren in den TCM-Lehrwerken vor Augen führen und sie mit der Komplexität dieser Theorien in den historischen Schriften vergleichen. Da liegen Welten dazwischen. Auch in der VR China gibt es mittlerweile, mehr oder weniger offen, inzwischen wieder eine verstärkte Rückbesinnung auf Inhalte, die in die TCM keinen Eingang gefunden haben. Da ist es kein Wunder, dass auch ausserhalb Chinas nun ein Interesse erwacht in die Realität der chinesischen Medizin vor 1950 Einblick zu nehmen.
Erlauben Sie mir, auch an dieser Stelle Herrn Dorn-Schohaus von 3B Scientific GmbH in Hamburg zu danken. Die Übernahme der Hälfte der Herstellungskosten hat es erlaubt, ein Buch zu erstellen, das nicht nur ästhetisch seinem historischen Rang entspricht, sondern auch vom Preis her so angesetzt ist, dass wohl jeder Interessierte sich den Erwerb leisten kann.